
Wer hat den Mut zum Paradigmenwechsel im deutschen Krankenversicherungssystem?
Die Frage nach Konvergenz oder Konkurrenz zwischen gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) und privater Krankenversicherung (PKV) bestimmt auch in diesem Jahr wieder die öffentliche und politische Debatte. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass auch nach der Bundestagswahl im Herbst der zukünftige Entwicklungspfad von GKV und PKV nach wie vor schwer prognostizierbar bleiben wird. Systemineffizienzen werden weiterhin an der Tagesordnung stehen. Muss das so sein? Oder gibt es Alternativen?
Das bipolare deutsche Krankenversicherungssystem
Deutschland ist weltweit das einzige Land, welches sich ein Nebeneinander von einer typischen Sozialversicherung in Form der GKV und einem aktuarischen System in Form der PKV leistet. Die Niederlande verfügten über ein ähnliches Konstrukt, haben dieses jedoch 2006 abgeschafft. In Deutschland findet zwar auch seit Jahrzehnten eine fortschreitende Annäherung zwischen GKV und PKV statt, ein wirklicher Systemwechsel scheint in der gegenwärtigen Parteienlandschaft indessen nicht möglich zu sein.
Das mit ständiger Rechtsunsicherheit verbundene “Herumschrauben” an den Systemgrenzen zwischen GKV und PKV erschwert sowohl den Marktteilnehmern der GKV als auch denen der PKV eine nachhaltige unternehmerische Planung und wird auch für die über 80 Millionen Krankenversicherten in Deutschland mehr und mehr zu einem unplanbaren Unterfangen.
Der Parkplatzvergleich
Verlassen wir für einen Moment die Krankenversicherungslandschaft in Deutschland und betrachten wir in einer modellhaften Konstellation den einzigen Parkplatz einer Stadt [1]: Der Parkplatz ist direkt in der Innenstadt. Parken ist hier kostenlos. Weitere Parkplätze gibt es erst weit außerhalb der Innenstadt. Die Kapazität des Parkplatzes liegt aufgrund des kostenlosen Parkens deutlich unterhalb der Nachfrage nach Parkplätzen. Um der chaotischen Parksituation Herr zu werden, führt die Stadt ein Parkscheinsystem ein. Darauf folgend werden maximal so viele Parkscheine vergeben wie Parkplätze vorhanden sind. Die Parksituation entspannt sich und der Parkplatz wird effizient genutzt.
Nehmen wir nun an, der Parkplatz würde von zwei Betreibern parallel bewirtschaftet, das heisst das Recht den Parkplatz zu befahren ist daran gekoppelt, Parkscheine von beiden Betreibern zu erwerben. Leicht nachvollziehbar ist, dass diese Lösung weniger effizient als die zuerst skizzierte Lösung ist. Solange die beiden Betreiber sich nicht komplett abstimmen, wird ein Nash-Gleichgewicht [2] erzielt: Der Parkplatz wird nicht voll belegt sein, da jeder der beiden Betreiber das Recht hat, an potenzielle Parkinteressenten keinen Parkschein zu vergeben.
Nash-Gleichgewicht im deutschen Krankenversicherungssystem
Zurück zur Krankenversicherung in Deutschland: Auch im bipolaren deutschen Krankenversicherungssystem liegt ein Nash-Gleichgewicht vor. Vorteile, die der Gesetzgeber mal der GKV und ein anderes Mal der PKV gewährt, führen – wie die Vergangenheit schmerzlich bewiesen hat – makro-ökonomisch gesehen nicht zu einer Erhöhung der Effizienz des Gesamtsystems. Diese wäre nur in einem einheitlichen Krankenversicherungssystem zu erreichen.
Historisch bedingte Pfadabhängigkeit
Die handelden Akteure im deutschen Krankenversicherungssystem befinden sich in einer historisch bedingten Pfadabhängigkeit, aus der sie sich in den letzten Jahrzehnten nicht befreien konnten und auch gegenwärtig nicht befreien können.
Ein Beispiel für Pfadabhängigkeit ist die „QWERTY“- bzw. „QWERTZ“-Buchstabenfolge bei modernen Computer-Tastaturen. Obwohl es im Computerzeitalter effizientere Alternativen für Buchstabenfolgen gibt, wird an der historischen Buchstabenfolge, die zu Beginn des Schreibmaschinen-Zeitalters aus mechanischen Gründen gewählt wurde, festgehalten [3].
Ähnlich ist es in der Krankenversicherung. Das Nebeneinander zwischen GKV und PKV “war ja schon immer so”. Also gehen wir weiter auf diesen alten Pfaden voran, ohne deren Sinnhaftigkeit ernsthaft zu hinterfragen.
Ein Exkurs in die Geschichte
Bereits 1794 wurden in Preußen erste staatliche Regelungen zur Krankenversicherung erlassen, die 1854 darin mündeten, die Errichtung örtlicher Krankenkassen für Handwerker und Fabrikarbeiter erzwingen zu können. Der Versicherungspflicht bei einer sogenannten Zwangshilfskasse konnte entgehen, wer die Mitgliedschaft bei einer freien Hilfskasse nachweisen konnte. Mit den Bismarckschen Krankenversicherungsgesetzen wurden 1883 und 1884 die Zwangshilfskassen in gesetzliche Krankenkassen umgewandelt. Mitgliedschaften bei freien Hilfskassen konnten aufrecht erhalten bleiben, wenn die Leistungen der freien Hilfskassen den Mindestleistungen der gesetzlichen Krankenkassen entsprachen. Die freien Hilfskassen wurden 1911 dem Versicherungsaufsichtsgesetz unterstellt und gehörten damit formal zur Privatversicherung.
Um ihren Geschäftsbereich auszuweiten, gründeten die freien Hilfskassen in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg Tochtergesellschaften, die nach reinen Grundsätzen der Privatversicherung agierten. In jener Zeit entstand unter anderem die heute noch existierende „Barmenia“ als Tochtergesellschaft der damals als freie Hilfskasse operierenden „BARMER Ersatzkasse“ [4].
Die endgültige Trennung von GKV und PKV wurde mit einer Verordnung im Jahr 1937 vollzogen, die arbeitsmäßige Beziehungen zwischen den freien Hilfskassen und ihren Tochtergesellschaften untersagte.
Der Exkurs in die Geschichte der deutschen Krankenversicherung zeigt, dass GKV und PKV ihre gemeinsamen Wurzeln im Solidaritätsprinzip finden. In beiden Systemen sind die potenziellen Nutznießer der Solidarität identisch mit den potenziell Unterstützenden. Sowohl in der GKV als auch in der PKV kommt eine Solidargemeinschaft auf freiwilliger Basis zustande, da alle Versicherten sich darauf verlassen können, im Falle eigener Bedürftigkeit von der jeweiligen Gemeinschaft unterstützt zu werden.
Die Zeit ist Reif für einen Paradigmenwechsel – doch wer traut sich?
Ist es möglich, dass sich die handelnden Akteure im deutschen Krankenversicherungssystem aus ihrer historischen Pfadabhängigkeit befreien und gemeinsam eine einheitliche Krankenversicherungssystem-Lösung für Deutschland suchen? Der Gesetzgeber hat es in der Hand, ob er weiter am Level Playing Field “herumdoktert” oder ob er einen kooperativen Impuls zur Entwicklung eines „idealen“ Krankenversicherungssystems für Deutschland setzt.
Aufbauend auf diesem Impuls des Gesetzgebers sollten die Hauptakteure bei der Lösungsentwicklung die Träger der GKV und PKV sein. Möglich und gar nicht so unwahrscheinlich ist, dass sowohl GKV als auch PKV nach einer “gemeinsamen Reform” besser dastehen würden als heute. Ein Blick in die Niederlande zeigt, dass dort nach der Reform neben anderen positiven Effekten der Wettbewerb innerhalb der Krankenversicherung erheblich zugenommen hat und es sogar zu übergreifenden Fusionen gekommen ist. Ein Szenario, welches auch in Deutschland möglich wäre. Zusammenschlüsse zwischen Unternehmen der GKV und der PKV ließen sich mit einer Feinjustierung des Sozial- und Wettbewerbsrechts hinsichtlich der Fusionskontrolle mit einfachen Mitteln begegnen [5].
Die Zeit ist jedenfalls reif für einen Paradigmenwechsel.
[1] Beispiel angelehnt an: Buchanan, James M. und Yong J. Yoon: Symmetric Tragedies: Commons and Anticommons, Journal of Law and Economics, 43. Jg. (2000), S. 1-13
[2] Das Nash-Gleichgewicht ist ein spieltheoretischer Begriff und definiert den Zustand eines strategischen Gleichgewichts, bei dem ein einzelner Spieler für sich keinen Vorteil erzielen kann, indem er von seiner Strategie abweicht.
[3] Zur Pfadabhängigkeitstheorie siehe u. a.: Heine, Klaus und Wolfgang Kerber: European corporate laws, regulatory competition and path dependence. European Journal of Law and Econonomics, 13. Jg. (2002), S. 47-71
[4] vgl. Hax, Karl: Die Entwicklungsmöglichkeiten der Individualversicherung in einem pluralistischen System der sozialen Sicherung. Köln: W. Kohlhammer (1968)
[5] vgl. Knoche, Frank und Magdalena Thöni: Sozial- und wettbewerbsrechtliche Konflikte bei der Fusionskontrolle in der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Ein Konfliktlösungsvorschlag auf Basis des Herfindahl-Hirschman-Index. Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, 100. Jg. (2011), S. 539-560
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